Was Tabu ist, ist ja nicht unbedingt schlecht. Es ist vielmehr "heilig" und deshalb "unberührbar".
Interessante Betrachtung mit der Heiligkeit! Ich vermute, dass das eine das andere bedingt? Mit der Heiligkeit eines Objekts geht beispielsweise einher, dass man bestimmte Dinge mit dem Objekt nicht tun darf, diese Dinge gelten als Entehrung des Heiligen.
Hmm, ob ein Status von Heiligkeit erreicht werden kann, ohne ein Tabu darauf zu haben, diese Heiligkeit zu beschmutzen oder zu entehren? Man könnte ja Nacktheit auch Heiligkeitsstatus zusprechen und sie quasi öffentlich "zelebrieren"? In diesem hypothetischen Beispiel wäre für mich erstmal kein unmittelbares Tabu erkennbar. Ist aber vielleicht zu kurz gedacht, kp. Ich muss auch an alte Fruchtbarkeitskulte denken, aber darüber weiß ich kaum etwas.
Und ob umgekehrt durch ein Tabu eine gewisse Heiligkeit entsteht? In Anbetracht von Tabu-Themen wie Homosexualität, Inzest etc. ist das wohl im Allgemeinen nicht der Fall.
Also sind Heiligkeit und Tabus wohl doch etwas verschiedene Konzepte, auch wenn ich die Überschneidungen spannend finde!
Man muss auch unterscheiden, ob man
- ein Tabu aus dem nichts stampft ("Diese Schale ist uns heilig, niemand darf sie berühren.") oder ob man
- etwas Naturgegebenes tabuisiert (nackter Körper, mit dem man geboren wird, angeborener Sexualtrieb).
Im ersten Fall kann man noch argumentieren, dass es ja keine Notwendigkeit gibt, die Schale zu berühren (wobei ein Verbot auch einen Wunsch schafft), aber im zweiten Fall gibt es naturgegebene Umstände (Nacktheit), die in der Öffentlichkeit bereits einen Tabubruch darstellen, oder gar ein angeborenes Verlangen, das unterdrückt werden muss. Man hat als Mensch also die Wahl, sich entweder zu verhüllen und sein Verhalten einzuschränken, oder aber ein sehr negatives Gefühl zu empfinden und von anderen abgewertet zu werden.
Für mich wirft das schon die Frage auf: Ist man denn von Natur aus falsch oder schlecht, wenn man so, wie man ist, unter anderen nicht sein darf?
Und wenn man aber gar nicht das Schlechte am Tabubruch erkennen kann, Nacktsonnen im Park womöglich sogar total toll findet oder es rational betrachtet sinnvoll findet, im Hochsommer ohne Kleidung joggen zu gehen, fühlen sich beide Optionen eigentlich ziemlich fies und ungerecht an. Mich macht sowas tatsächlich auch etwas wütend.
Auch schämt man sich nicht, weil etwas schlecht und verwerflich ist, sondern weil es in eine Intimsphäre gehört, in die der andere / fremde nicht eindringen darf.
Da will ich widersprechen, muss aber auch sagen, dass ich den Punkt etwas unklar finde.^^
Scham empfindet man definitionsgemäß, wenn man in den Augen anderer abgewertet wird, wenn also der eigene Selbstwert angegriffen wird.
Nach meinem Verständnis liegt da die Schlussfolgerung nahe, dass das, was zum Schamgefühl geführt hat (nackt in der Öffentlichkeit sein, Sex in der Öffentlichkeit haben), irgendwie schlecht, da tabu, ist. Man erfährt ein deutliches negatives emotionales Feedback für die tabuisierte Handlung, da sollte das Belohnungszentrum eigentlich die Erkenntnis draus machen, dass die Handlung nicht gut war, oder wie siehst du das?
Auch passt dein Beispiel eher auf das Erwischtwerden beim Sex als auf eine freiwillige Handlung wie beispielsweise nackt joggen zu gehen und beobachtet zu werden. In dem Fall kann ich Scham empfinden und fühle mich von anderen abgewertet, aber ich habe eigentlich ja kein Problem damit, dass jemand in meine Intimsphäre eindringt und mich nackt sieht. Die anderen haben eher das Problem, dass ich ihnen meine Intimsphäre, die für mich nicht intim ist, aufdränge ...
Wenn ein Paar sich ein Versteck in der Natur sucht, spioniere ich dem nicht nach. Das ist keine moralische Ablehnung, sondern eine Achtung der Intimsphäre.
Das interpretiere ich nun so, dass du aus rationalen und moralischen Überzeugungen heraus die Intimsphäre der anderen respektierst. Dazu ist kein Tabu notwendig.
Und das ist tatsächlich auch ein häufiges Argument, das ich bringe, nämlich dass Tabus nur "Shortcuts" sind, um das Verhalten von Menschen durch Scham zu lenken, statt ihnen rational oder durch moralische Überlegungen zu vermitteln, warum man bestimmte Dinge nicht tun sollte.
Natürlich gibt es gute Gründe, auch die Nacktheit an sich schon als etwas intimes zu sehen. Im FKK-Bereich begegnet man sich anders als am Arbeitsplatz. Es ist schon eine vertrautetre Atmosphäre. Aber wirklich intimes gehört da nicht hin.
Naja, wer sagt, dass das so ist?^^ Klar, zu einer profitorientierten Leistungsgesellschaft passt der nackte Mensch mit seinen Bedürfnissen nicht, dort müssen wir schließlich funktional und effizient sein. Wäre eine Gesellschaft ohne diese Fassade aber nicht vielleicht rücksichtsvoller, weniger oberflächlich, mitfühlender?
In einer Welt, in der man Ablehnung minimiert und Akzeptanz maximiert, würden sich Menschen vielleicht auch geborgener und zufriedener fühlen ... Und jetzt komme ich mir wieder sehr hippiemäßig vor.
Da ist die Frage: Ist uns Sexualität heilig? Unterscheiden wir überhaupt zwischen besonders vertrauten Menschen und breiter Öffentlichkeit? Wollen wir in alles alle einbeziehen? Gibt es nicht auch besondere Beziehungen?
Ist das nicht eine sehr individuelle Frage, was einem wie wertvoll ist? Und sollte dann nicht auch jede Person selbst entscheiden dürfen, was für sie besonders heilig und intim ist, wo sie nicht von allen berührt oder gesehen werden mag? Mir ist meine Nacktheit jedenfalls nicht so heilig, und man kann mir die Heiligkeit der Nacktheit auch nicht durch Tabus eintrichtern. Beziehungsweise eigentlich finde ich die nackte Natur sogar sehr heilig und eben deshalb will ich sie auch zelebrieren und nicht verbergen müssen, als wäre es etwas ... Schambehaftetes.
Wichtig ist auch die Tatsache, dass jede Kultur ihre ganz spezifischen Tabus kennt. Früher war auch bei uns Händchenhalten oder gar ein Kuss in der Öffentlichkeit undenkbar. – War das nun besser, weil es mehr Intimes und mehr Heiliges hatte? Oder schlechter, weil Menschen weniger frei waren, weil sie sich mehr einschränken mussten und weniger sie selbst sein konnten?
In manchen Kulturen gibt es noch viel extremere Tabus in diese Richtung, man denke an Vollverschleierung. – Ist das nun besser oder schlechter? Es schafft definitiv mehr Intimität. Aber ist das wünschenswert?
Es bleibt bestimmt eine offene Frage, wo man am besten die Grenze setzt, was man akzeptiert und was tabuisiert. Ich persönlich neige zu einer möglichst freien Gesellschaft, weil ich mir mehr Zufriedenheit der Menschen davon erhoffe, wenn sie in möglichst vielen Aspekten ihrer Persönlichkeit akzeptiert und in möglichst wenigen eingeschränkt werden. Alles unter der Maßgabe, möglichst rücksichtsvoll mit anderen umzugehen und niemanden bewusst zu belästigen. Und was wir als Belästigung werten wollen, dürfen wir uns gewissermaßen gemeinsam aussuchen. Nackte Körper und Sex sollten meiner Meinung nach halt nicht dazuzählen.
Jedes Kind braucht Geheimnisse. Das Besondere liegt da oft gar nicht in der Sache, sondern einfach darin, dass es nur bestimmten Freunden mitgeteilt wird.
Dem widerspreche ich nicht. Andererseits ist es für das Kind aber schädlich, bestimmte Geheimnisse haben zu müssen, da die Scham, sie mitzuteilen, zu groß ist. Es geht eigentlich mehr darum, dass das Kind frei wählen können sollte, was es mitteilt und was nicht. Gefühle wie Scham und Angst helfen an der Stelle nicht.
Wer intimes öffentlich auslebt, löst den Wert der Intimität - und damit eben besondere, vertraute Beziehungen - auf. Er wird unfähig zu wirklich verbindlicher Freundschaft.
Das finde ich aber eine harte und wenig nachvollziehbare Aussage. Die Frage ist doch, was intim ist. Und das ist für jeden Menschen unterschiedlich.
Und eben deshalb bestehen Tabus. Was schön und natürlich ist, ist es auch gerade deshalb, weil sich Intimes darin ausdrückt. Es an die Öffentlichkeit zu zerren, ist gerade gegen die Natur, es entwertet Intimität und zestört damit Vertrauen und Verbindlichkeit.
Auch wenn der zweite Satz wunderschön ist: Einerseits wäre das eine Argumentation für eine Gesellschaft voller Tabus und Restriktionen, andererseits geht es ja gar nicht darum, irgendwas irgendwohin zu zerren. Jeder sollte einfach frei entscheiden dürfen, was er von sich preisgibt und zeigt, solange das niemandem schadet. Und momentan glauben die meisten Menschen, es würde ihnen schaden, Menschen zu sehen, wie sie in der Natur eben vorkommen, bei dem, was Menschen halt von Natur aus so tun.
Puh ... vielen Dank jedenfalls an alle, die bis hierhin durchgehalten haben.
Und nimm's mir nicht übel, Joki, dass ich so viel an deinen Aussagen auszusetzen habe.^^ Wir haben halt unterschiedliche Lebenserfahrungen und unterschiedliche Standpunkte, und das ist ja OK so. So können wir zumindest noch viel voneinander lernen.